Weekly Reads 09
Freihandel Vibe Shift, American Rogue Unilateralism, EU-Erweiterung ohne Perspektive, Studenten im ChatGPT-Zeitalter
Guten Abend aus Freiburg,
wie wahrscheinlich viele von euch verbringe ich die Osterzeit bei meiner Familie in der Heimat. Entschuldigt, dass ich am vergangenen Sonntag keine Weekly Reads verschickt habe. Meine erste Woche in Dresden seit fast acht Monaten führte dann doch zu mehr Arbeit als gedacht. Außerdem musste ich für ein (tolles!) Seminar in Berlin zum Thema Autoritarismus und Liberalismus noch einige Texte lesen.
Ohnehin lese ich für einige publizistische Projekte derzeit wieder mehr Bücher als Online‑Artikel. Neben Baudrillards Hyperrealität und Thomas Manns Zauberberg (in sechs Wochen jährt sich sein 150. Geburtstag!) habe ich erneut zu den guten alten Dahrendorf‑Büchern aus der jungen Bundesrepublik gegriffen – auch hier gibt es 70 Jahre Gesellschaft und Demokratie in Deutschland zu feiern. Gerade seine Konflikttheorien erscheinen mir weiterhin aktuell.
Dem vermehrten Buchkonsum geschuldet und mit Blick auf die Ostertage halte ich mich auch in dieser Woche etwas kürzer (statt diesen Newsletter zu schreiben, habe ich meine freie Zeit heute zunächst für Christian Krachts neues Buch AIR genutzt). Ich stelle vier verschiedene Texte sowie einen neuen Beitrag von mir für das Zentrum Liberale Moderne vor.
Viel Spaß!
Donald Trump’s gift to globalisation (Janan Ganesh, The Economist)
The Age of American Unilateralism (Michael Beckley, Foreign Affairs)
Eine Absage an die EU‑Erweiterung (Michael Martens, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
The Average College Student Today (Hilarious Bookbinder, Substack)
Europa sollte von den Kleinen lernen – Milan Kundera und sein Ende der Geschichte (Eigenbeitrag, Zentrum Liberale Moderne)
1. Donald Trump’s gift to globalisation (Janan Ganesh, The Economist)
“Now? The Ricardian cause has no lack of friends. These include: financial markets, which have judged that Donald Trump’s tariffs will destroy wealth, or stop it being created; the Chinese embassy in Washington, which quotes Ronald Reagan’s case against protectionism back at his party; and, most tellingly, the left, which has chosen not to defend the tariffs as a reassertion of the state. In taking such a welcome stand on this issue, progressives may not realise quite how much is being admitted — the sanctity of price competition, for instance — but let’s not scare them off.
For the first time since the crash of 2008, globalisation has the high ground. It is those striving to undo it who are on the moral and intellectual defensive. Protectionism has turned out to be something of a fair-weather cause: popular as long as no one has to make a material sacrifice.”
“This change in the intellectual atmosphere should affect how governments behave over time. So should the humbling of a second protectionist president in a row. After the electoral flop of Bidenomics, it is Trump’s turn to misread the working class as people pining to do the manual jobs of their forebears. It takes a college degree to believe this patronising foolery, which the comedian Dave Chappelle has countered better than most. (“I want to wear Nikes, not make them.”) What is a “worker” in 2025? A sales rep with a sideline as a gig driver, probably, whose main exposure to trade is the purchase of cheap products. While 80 per cent of Americans want more factories, 25 per cent aspire to work in them. Physical labour for thee, but not for me.”
NO: Diese Grafik haben einige von euch bestimmt schon gesehen, weil sie vielfach in den sozialen Medien geteilt wurde. Negative polarization is one hell of a drug, und Freihandel scheint bei den Demokraten plötzlich wieder beliebt zu sein. Tatsächlich habe ich in den vergangenen Jahren selten von so vielen Menschen gehört, wie sinnvoll Freihandel doch sei. Neben der Liberal Party in Kanada scheint vielleicht sogar Trump ein paar Freihandelsabkommen zu retten – bis zum nächsten Streik französischer Bauern. Jokes aside: All das kann natürlich nur temporärer Natur sein (wie ich schon im letzten Newsletter schrieb), und 30 % sind weit von überzeugenden Mehrheiten entfernt. Aber vielleicht tut es der linksliberalen Seite wirklich einmal gut, zu merken, welche ihrer ehemaligen Positionen nun von den Herren im Weißen Haus umgesetzt werden. Negative Polarisation hin zu mehr Gentechnik, Forschung und Freihandel – warum denn nicht?
2. The Age of American Unilateralism (Michael Beckley, Foreign Affairs)
“Since the end of the Cold War, the United States has largely been expected to follow one of two foreign policy paths: preserve the country’s position as the leader of the liberal international order or withdraw and adjust to a post-American, multipolar world. But as I argued in Foreign Affairs in 2020, the most likely trajectory was always a third: become a rogue superpower, neither internationalist nor isolationist but aggressive, powerful, and increasingly out for itself.”
As I argued in 2020, two powerful trends—demographic change and burgeoning automation—are remaking the global landscape and reinforcing the drift toward American unilateralism. Rapid demographic change is weakening great powers in Eurasia and destabilizing swaths of the developing world. Meanwhile, new technologies are reducing the United States’ need for foreign labor, energy, and large military bases. The result is a growing asymmetry: mounting disorder and weakening allies on one side and rising U.S. self-sufficiency and strike-from-a-distance capabilities on the other. As that gap widens, Washington will face stronger temptations to go it alone.
Meanwhile, democratic allies are struggling to keep pace. Japan, South Korea, Taiwan, and countries in Europe are rearming slowly, held back by shrinking tax bases and aging electorates that prioritize social spending over defense. Taiwan’s conscription pool is projected to halve by 2050. Japan, South Korea, and Ukraine are struggling to meet recruitment goals. British, French, and German forces have stagnated or declined. The result is a gathering storm: autocracies gearing up for conflict; democracies responding with too little, too late; and a United States increasingly unsure of whether defending distant allies is worth the mounting risks.
Even setting aside the security risks, the case for spheres of influence collapses on economic grounds. Outsize wealth has never come from fortress economies. It comes from open, maritime commercial orders that enable sustained, compound economic growth. If the United States were to retreat into continentalism and cede spheres to Beijing and Moscow, it may remain safer and richer than most. But it would be far poorer than it could be and far more likely to face the fires of conflict down the road.
NO: Ein langer Read in Foreign Affairs zu den Hintergründen des amerikanischen Weges und den Schwächen des sich abzeichnenden Alleingangs. Rationalisierungen von Trump und Co. sind immer schwierig, aber es gibt Mikro- und Makrobedingungen, die abseits der innenpolitischen Debatte in den USA die außenpolitische Neuorientierung der Amerikaner erklären können. Spot on ist im Übrigen die Feststellung, dass Demografie und Technologie die zwei geopolitischen Faktoren dieses Jahrhunderts sind. Für Europa und das demokratische Asien wird Technologie umso relevanter, je schneller sich der demografische Rückgang beschleunigt.
3. Eine Absage an die EU-Erweiterung (Michael Martens, FAZ)
Es gibt eine vier Sätze kurze Passage im Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung, die bisher wenig Aufmerksamkeit erhielt, obwohl sie außenpolitisch von einschneidender Wirkung sein könnte. „Die Erweiterung der EU und ihre Aufnahmefähigkeit müssen Hand in Hand gehen. Deshalb brauchen wir spätestens mit der nächsten Erweiterung eine innere Konsolidierung und Reform der EU, die sie institutionell stärkt“, lautet die erste Hälfte. Die zweite: „Das Konsensprinzip im Europäischen Rat darf nicht zur Entscheidungsbremse werden. Dies gilt grundsätzlich auch für die verbliebenen Entscheidungen mit Einstimmigkeit im Rat der EU.“
Im Kern ist das eine Absage Berlins an die bisherige Rhetorik (eine Politik kann man es ohnehin schon seit Jahren nicht mehr nennen) der EU-Erweiterung. Denn damit ist formuliert, was schon lange gilt: Die mangelnde Beschlussfähigkeit der EU ist ein zentrales Hindernis für die Aufnahme neuer Mitglieder. Jede neue Vollmitgliedschaft brächte schließlich auch ein zusätzliches Vetorecht im Europäischen Rat in jenen Politikfeldern mit sich, die einstimmige Entscheidungen verlangen.
Nähme die EU alle Staaten auf, die ihren Beitrittswunsch signalisiert haben oder darüber bereits verhandeln, hätte das zur Folge, dass etwa in der Außenpolitik nichts mehr gegen den Willen Belgrads, Chișinăus, Kiews, Sarajevos, Skopjes, Podgoricas, Prishtinas oder Tiranas entschieden werden könnte.
Dabei gibt es schon seit Jahren eine Idee, wie sich den Beitrittskandidaten ein attraktives Ziel bieten ließe, ohne zugleich die EU mit neuen vetoberechtigten Mitgliedern zu belasten. Es handelt sich um das Modell eines Zugangs der betroffenen Staaten zum gemeinsamen Markt der EU – nach Erfüllung fast aller Kriterien, die auch für eine Vollmitgliedschaft erreicht werden müssten. Die Anforderungen blieben also hoch. Sie wären aber womöglich leichter erfüllbar, weil das Ziel realistisch und attraktiv zugleich ist. Ein solches Vorgehen würde den Rechtsraum der EU erweitern, ohne ihre politischen Strukturen zu belasten.
NO: Man sollte nicht zu viel auf Koalitionsvertrag‑Hermeneutik setzen, aber Martens macht hier einen wichtigen Punkt in der FAZ. Wer regelmäßig in Osteuropa unterwegs ist, merkt schnell, dass die europäische Integration irgendwann an ihre Grenzen kommt. Albanien und Nordmazedonien sind weiterhin Länder, die eine feste Perspektive haben – doch bei vielen anderen Staaten ist die Aufnahme seit Jahren reinste Wohlfühlrhetorik. Europa hat schon Probleme bei der internen Konsolidierung; unter diesen Voraussetzungen wird man in Zukunft kaum weitere Länder aufnehmen. Das ist dann kein Problem, wenn es eine weitere Perspektive zur europäischen Integration – auch außerhalb der EU – für diese Staaten gibt: Das könnte der europäische Markt sein.
4. The Average College Student Today (Hilarious Bookbinder, Substack)
“I’m Gen X. I was pretty young when I earned my PhD, so I’ve been a professor for a long time—over 30 years. If you’re not in academia, or it’s been awhile since you were in college, you might not know this: the students are not what they used to be. The problem with even talking about this topic at all is the knee-jerk response of, “yeah, just another old man complaining about the kids today, the same way everyone has since Gilgamesh. Shake your fist at the clouds, dude.”1 So yes, I’m ready to hear that. Go right ahead. Because people need to know.
Students are not absolutely illiterate in the sense of being unable to sound out any words whatsoever. Reading bores them, though. They are impatient to get through whatever burden of reading they have to, and move their eyes over the words just to get it done. They’re like me clicking through a mandatory online HR training. Students get exam questions wrong simply because they didn't even take the time to read the question properly. Reading anything more than a menu is a chore and to be avoided.
Even in upper-division courses that students supposedly take out of genuine interest they won’t read. I’m teaching Existentialism this semester. It is entirely primary texts—Dostoevsky, Kierkegaard, Nietzsche, Camus, Sartre. The reading ranges from accessible but challenging to extremely difficult but we’re making a go of it anyway (looking at you, Being and Nothingness). This is a close textual analysis course. My students come to class without the books, which they probably do not own and definitely did not read.
That’s right, ChatGPT. The students cheat. I’ve written about cheating in “Why AI is Destroying Academic Integrity,” so I won’t repeat it here, but the cheating tsunami has definitely changed what assignments I give. I can’t assign papers any more because I’ll just get AI back, and there’s nothing I can do to make it stop. Sadly, not writing exacerbates their illiteracy; writing is a muscle and dedicated writing is a workout for the mind as well as the pen.
The average student has seen college as basically transactional for as long as I’ve been doing this. They go through the motions and maybe learn something along the way, but it is all in service to the only conception of the good life they can imagine: a job with middle-class wages. I’ve mostly made my peace with that, do my best to give them a taste of the life of the mind, and celebrate the successes.”
NO: Wie sagt man im Englischen: this hits too close to home. Es knüpft ein wenig an die Reads der letzten Woche an, in denen ich bereits Gründe genannt habe, warum meine Generation definitiv nicht alright ist. Man muss sich von kulturpessimistischen Gemeinplätzen wie dem viel beschworenen »Verfall der Universität« fernhalten, aber vieles in dieser tristen Diagnose stimmt. Ich schreibe das nicht aus der Sicht eines Professors, sondern als bald graduierter 22‑jähriger Bachelorstudent, der bei seiner bald fälligen Französisch‑C1‑Abgabe vermutlich noch auf DeepL zurückgreifen wird. Man sollte die Nutzung von DeepL oder ChatGPT nicht grundsätzlich verteufeln; es sind höchst praktische Werkzeuge. An anderer Stelle habe ich schon auf Twitter geschrieben, dass gerade für begabtere Wissenschaftler (Doktoranden und Postgraduierte ohne SHKs) ChatGPT maßgeblich helfen wird (nie wieder Inhaltsverzeichnisse anlegen oder stundenlang Zitate suchen, bei denen man die Seite nicht markiert hat – yippie!). Das Problem ist nur: Selbst ich merke schon die Verdummung durch ChatGPT. Mein Glück ist, dass ich mir durch regelmäßiges Schreiben zumindest in diesem Bereich keine Sorgen machen muss. Doch beim Lesen merke ich schon seit einigen Jahren, dass ich mich zunehmend stärker disziplinieren muss, um meine Aufmerksamkeitsspanne für komplexe Texte aufrechtzuerhalten. Ich könnte gerade noch zur gifted generation gehören, die ohne ChatGPT im weiteren Sinne denken gelernt hat. Für das Niveau der gesellschaftswissenschaftlichen Seminare – das merkt man jetzt schon – sind geringe Aufmerksamkeitsspannen durch Doom‑Scrolling und Textanalysen via ChatGPT eine große Bürde. Ich spiele schon länger mit dem Gedanken, mir zumindest für einige Monate ein Klapphandy zuzulegen. Naja, das ist vielleicht der Thoreau‑Moment meiner Generation.
5. Europa sollte von den Kleinen lernen – Milan Kundera und sein Ende der Geschichte (Mein neuer Text, Zentrum Liberale Moderne)
“Vermutlich war es Zufall, dass mich all meine Auslandsaufenthalte in die Länder führten, die der amerikanische Politikwissenschaftler Robert O. Keohane einst als „Liliputaner in Gullivers Welt“ beschrieb. In den Kosovo, nach Polen, auf Taiwan oder in die südkoreanische Hauptstadt – in all diese kleinen Nationen, deren Existenz im Großmächtespiel der Weltgeschichte nie selbstverständlich war. In einer verwinkelten Buchhandlung in Breslau hatte ich den neu aufgelegten Essay von Milan Kundera, „Die Tragödie Mitteleuropas“, gefunden. Als ich diesen bemerkenswerten Text das erste Mal las, fühlte ich mich von seiner Feststellung ertappt, dass ein Amerikaner oder Engländer es nicht gewohnt ist, über Fragen zu sprechen, die die Existenz der eigenen Nation betreffen. Für einen Deutschen galt dies – trotz unserer Geschichte – gleichermaßen. In Polen wiederum verkündet schon die erste Zeile der Nationalhymne, dass „Polen noch nicht gestorben ist“.”
“Die Weltgeschichte – so Kundera – war die „Erzählung (…) einer Geschichte der Eroberer“. Die kleinen Nationen konnten keine Eroberer sein. Sie wussten um die Fragilität des Endes der Geschichte und dass nur eine aktive Verteidigung dieses Endes verhindern konnte, die zerstörerischen Kräfte der Geschichte wieder freizusetzen. Lange bevor in Deutschland die Zeitenwende ausgerufen wurde, hatte man in Polen aus der Krim-Invasion die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen. Vor zwei Wochen erzählte mir wiederum ein südkoreanischer Freund über KakaoTalk, dass er ab Mai seinen Militärdienst antreten werde. Ich erinnerte mich an ein gemeinsames Mittagessen mit ihm und einem finnischen Studenten, der sich erstaunt darüber zeigte, dass wir in Deutschland keinen Militärdienst hätten. Genau das hatte Kundera wohl gemeint. Ich als Deutscher wusste nicht, wie es sich anfühlt, wenn die Existenz der eigenen Nation jederzeit auf dem Spiel steht. Jetzt muss ich fast jeden Tag darüber nachdenken, wie die Zukunft Europas in dieser neuen Welt aussehen soll. Obwohl es weitestgehend absehbar war, hat die Außenpolitik Donald Trumps einen ganzen Kontinent aus dem Dornröschenschlaf geweckt.”
“Vielleicht ist es gerade eine Chance für Liberale, wenn sie in den internationalen Beziehungen wieder zu einer ideologischen Minderheit werden. Auf der Suche nach einer eigenen europäischen Identität hatten die Philosophen Habermas und Derrida 2003 – im Angesicht des Irak-Kriegs – ein „avantgardistisches Kerneuropa“ im kantianischen Sinne vorgeschlagen. Vielleicht sollte man sogar noch eine Stufe kleiner denken – mit viel Pathos und wenig Realismus lässt sich dieser liberale Kontinent schließlich nicht retten. Warum es das liberale System zu verteidigen gilt, zeigen die kleinen Staaten heute vor. Es gilt, von ihnen zu lernen.”
NO: Ein paar Ausschnitte aus meinem neuen Text für das Zentrum Liberale Moderne, in dem ich einige Gedanken von meinen Reisen aus dem vergangenen Jahr verarbeitet habe. Lest gerne rein. In der nächsten Woche folgt noch ein weiterer Text für die Jungle World (er ist schon im Print, ich warte aber noch auf die Online-Version) zu den Protesten in Serbien - der nächste Auslandsaufenthalt wurde also auch hier gut genutzt.
Wer es bis hierhin geschafft hat: danke!
Bis bald,
Nikolai